Esther Dymel-Sohl: Wahres Kinderglück

2023-09-09T18:40:08+02:0009. September 2023|Allgemein, Dies und das|

Und der König wird ihnen entgegnen: ›Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan! (Matthäus 25,40 Neues Leben. Die Bibel)

Wahres Kinderglück

Von Esther Dymel-Sohl

„Das ist ja toll, dass du jetzt schon alleine auf Klo gehst“ höre ich eine helle Mädchenstimme, wundere mich aber ein wenig, dass sie aus der Männertoilette ertönt. Unaufhörlich redet das Mädchen mit glockenklarer Stimme auf jemanden ein, voller Lob über das gerade Geglückte. Ich schaue um die Ecke, neugierig, welches junge Fräulein sich denn an diesem gottesdienstfreien Freitag in das Jungen-WC unserer Kirchengemeinde verirrt hat. Strahlend schiebt eine etwa 10-Jährige ihre kleine Schwester durch die Tür, die sich schnell noch ihre Hose richtet. Ich begrüße die beiden und übersehe geflissentlich, dass sie sich in der Toilette geirrt haben.

Ob sie sich denn nicht die Hände waschen wollen, will ich wissen. „Haben wir schon“, strahlt mich die Große an. „Davon habe ich nichts gesehen“, strahle ich zurück und schwubs, halten die beiden ihre Händchen unter den Wasserstrahl. „Du musst auch schön Seife nehmen“, kommandiert die Große ein bisschen lauter, als sie müsste und schielt zur Seite, ob ich das auch mitbekommen habe. Nachdem die Kleine etwa 20-mal den Seifenspender betätigt und die Händchen gewaschen hat, wischt sie die Nässe an ihrer Hose ab. Ob die davon trocken werden, bezweifle ich, denn die Kleidung der beiden ist vom Regen völlig durchnässt.

„Wir durften kurz reinkommen“ erklärt mir die Große entschuldigend. Ein Mitarbeiter hatte die beiden reingelassen, als er erkannte, was dringend erledigt werden musste. „Eigentlich darf ich ja nicht mehr hier rein!“ Warum, will ich wissen. „Ach, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.“ Sie fragt, ob ich ein Glas Wasser für sie und ihre Schwester hätte. „Wir haben so einen Durst, aber unsere Mama lässt uns nicht rein. Sie will ihre Ruhe haben, weil sie nur Hauptschule hat und jetzt für ihr … für ihr … für ihr … ach wie heißt das noch … ach ja, für ihr Abitur lernen will.“ Das Fragezeichen in meinem Kopf wird immer größer, doch Mitleid hat mich ergriffen. Warum dürfen sie nicht in unsere Gemeinde und was ist mit der Mutter?

Leider kann ich nur Leitungswasser anbieten. „Das macht nichts! Meine Schwester ist übrigens vier Jahre alt“ erzählt die Große stolz. „Und wir beide haben Hunger…“ schiebt sie schnell hinterher. Erbarmen ergreift mein Herz. Die Senioren der Gemeinde sitzen gerade beim Kaffeetrinken zusammen. Auf meine Anfrage hin, wird mir für die Kinder der Schokoladenkuchen wärmstens empfohlen. „Ach, mit den Straßenkindern, das wird immer schlimmer“, meint eine ältere Dame. Ich bedanke mich herzlich und präsentiere meinen beiden Gästen das Festmahl. Noch nie zuvor habe ich solche strahlenden Kinderaugen gesehen. Jeder Happen wird zelebriert. Genüsslich lassen die beiden Bissen um Bissen auf der Zunge zergehen. „Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon keine Schokolade mehr gegessen habe“, seufzt die Große voller Zufriedenheit, als sie sich mit dem Handrücken den Schokorand vom Mund wischt. Ich schaue sie mir genauer an. Ihr linker Wangenknochen schimmert in allen Regenbogenfarben.

Fröhlich plappernd und frei heraus erzählt sie mir, dass sie bei Wind und Wetter nachmittags draußen bleiben müssen und die Mutter nicht die Tür aufmacht. Dass eine sehr nette Kerstin vom Jugendamt immer zu dem Jungen kommt, der über ihnen wohnt und dass sie sich auch schon gut mit ihr unterhalten hat. Dass sie in die vierte Klasse der Grundschule geht und immer auf ihre Schwester aufpasst. „Die jetzt schon auf Klo gehen kann!“ erklärt sie mir noch einmal voller Stolz, als wenn es ihr Verdienst ist. „Vielleicht ist es ja ein Stück weit auch ihr Verdienst“, schießt es mir durch den Kopf.

Ein anderer Gemeindemitarbeiter kommt vorbei und hält inne, als er die Kinder sieht. Er bittet mich zur Seite und erklärt mir, dass die Kinder schon oft beim Streunen in den Gemeinderäumen erwischt worden seien und deshalb nicht alleine hier herumlaufen dürfen. Ich bedanke mich für die Information und wende mich wieder meinen beiden Gästen zu. Doch die stürmen gerade an mir vorbei in Richtung Ausgang. Ihr fröhliches „Danke für den Schokokuchen!“ hallt noch in meinem Herzen nach, als sich die Eingangstür schon längst hinter ihnen geschlossen hat. Ja, wir können die einzelnen Lebenswelten nicht grundlegend verändern – aber wir können sie durch unser Handeln ein bisschen schöner machen.

Esther Dymel-Sohl

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