Ich möchte in diesem Artikel der Frage nachgehen: Wie gehen wir als Christen mit Gewalt unter Christen um?
Zunächst müssen wir einmal definieren, was eigentlich Gewalt nach biblischen Maßstäben ist. Viele Gewalttäter und Täterinnen rechtfertigen nämlich psychische Gewalt damit, dass sie ja keine körperliche Gewalt anwenden. Außerdem werde ja selbst die Rute als Erziehungsmittel in der Bibel nicht verboten, sondern im Alten Testament sogar empfohlen: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Spr. 13,24) Dem entgegen steht natürlich unser westliches Verständnis von Gewalt. Andere Kulturen hingegen sehen das anders. Da unsere Gesellschaft inzwischen multikulturell geworden ist, stehen wir vor nicht einfachen Fragen.
Menschen, die Gewalt oder Missbrauch in christlichen Familien oder Gemeinden erfahren haben, wünschen häufig eine klare Offenlegung und Ächtung dessen, was da mit ihnen geschehen ist. In diesem Sinne gibt es auch ein Gebot im Alten Testament, welches lautet: „Du sollst nicht einem Schuldigen Beistand leisten, indem du als Zeuge Gewalt deckst.“ (2.Mos. 23,1b)
Auch setzt Jesus Christus Gewalt schon viel früher an als erst bei körperlicher Gewalt. So sagt er: „Ihr wisst, dass zu den Vorfahren gesagt worden ist: ›Du sollst keinen Mord begehen! Wer einen Mord begeht, soll vor Gericht gestellt werden.‹ Ich aber sage euch: Jeder, der auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder sagt: ›Du Dummkopf‹, der gehört vor den Hohen Rat. Und wer zu ihm sagt: ›Du Idiot‹, der gehört ins Feuer der Hölle.“ (Matt. 5,21-22) Dazu zählt, wie ich das sehe, auch verbale Gewalt gegen Kinder. Auch dazu steht etwas im Neuen Testament: „Ihr Väter, kränkt eure Kinder nicht, auf dass sie nicht verzagen.“ (Kol. 3,21) Außerdem sagt Jesus: „Wer aber einen von diesen gering Geachteten, die an mich glauben, zu Fall bringt, der käme noch gut weg, wenn man ihm einen Mühlstein um den Hals hängen und ihn damit in der Tiefe des Meeres versenken würde.“ (Matt. 18,6) Auch Verführung oder Heuchelei, die dazu führen, dass jemand nicht mehr glauben kann, sind in Jesu Augen ein Verbrechen.
Wenn ich als Pastor höre, dass in einer Familie Gewalt herrscht, prüfe ich es erst. Stellt es sich als wahr heraus, mache ich den Gewaltausübenden klar, dass ich auch bereit bin, sie anzuzeigen. Wenn es innerhalb einer Gemeinde möglich ist, Menschen zur Einsicht zu bewegen, ist das gewiss der beste Weg. Das darf aber nicht dazu führen, dass Gewalt, in welcher Form auch immer, unter dem Deckmantel der Gnade verniedlicht wird und am Ende die Opfer bedrängt werden, zu vergeben und zu vergessen.
Trotzdem ist es oft komplizierter, als ich es bisher dargestellt habe. So erlebte ich, wie Kinder psychischer Gewalt ausgesetzt waren, sich aber dennoch immer noch zu ihren Eltern hingezogen fühlten. Dem Jugendamt war es nicht möglich, diese Kinder dauerhaft gegen ihren Willen aus dem Elternhaus zu holen. Das Einzige, was wir als Gemeindeleitung hätten tun können, war, die Eltern aus der Gemeinde auszuschließen. Doch dann hätten auch die Kinder den Bezug zur Gemeinde verloren. Die Frage, wie man helfen kann, lässt sich nicht immer pauschal beantworten, sondern benötigt in jedem einzelnen Fall Weisheit und Gottes Hilfe.
Die Offenlegung und Bestrafung von Gewalt ist eines. Doch hilft das auch den Personen, denen Gewalt angetan wurde? Ich glaube, dazu bedarf es mehr. Viele fordern zu Recht, dass auch Kirchen und Freikirchen nichts „unter den Teppich kehren“. Außerdem sind wir als Bürger unseres Landes gehalten, uns den hier geltenden Gesetzen unterzuordnen. Das gilt auch dann noch, wenn wir mit bestimmten politischen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Für uns gilt, dass der Weg Christi fern ab von jeder Art von Gewalt ist. Wir kommen also mit unserem Glauben in keiner Weise in einen Konflikt, wenn wir auf Gewalt, es sei denn aus Notwehr, verzichten.
Grundsätzlich achte ich allerdings in meinen Andachten darauf, aus ihnen keine Anklageschrift gegen andere zu machen. Denn wer den Weg der Gewalt beschreitet, ist schon außerhalb des Weges Christi. Solch eine Person schadet nicht nur anderen, sondern setzt sich selbst dem Gericht Gottes aus. Jesus sagte es einmal so: „Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und stell ihn unter vier Augen zur Rede. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er nicht auf dich, dann geh mit einem oder zwei anderen noch einmal zu ihm, denn ›jede Sache soll aufgrund der Aussagen von zwei oder drei Zeugen entschieden werden‹. Will er auch auf diese nicht hören, dann bring die Sache vor die Gemeinde. Will er auch auf die Gemeinde nicht hören, dann soll er in deinen Augen wie ein gottloser Mensch sein, wie ein Heide oder ein Zolleinnehmer.“ (Matt. 18,15-17) Ein gewalttätiger Christ, der womöglich noch sein Handeln rechtfertigt, läuft also Gefahr, gar kein Christ mehr zu sein, selbst wenn er bzw. sie sich selbst so bezeichnet.
Nun passiert es, dass man sich in diesem Prozess der Aufarbeitung ständig mit der Schuld anderer Personen beschäftigt. Ich erlebe jedoch nicht selten, dass Täter früher selber einmal Opfer waren. Deshalb ist es in meinen Augen außerordentlich wichtig, sich zu fragen: „Wie komme ich aus solch einer Verkettung der Gewalt heraus?“ Diese Frage soll nicht die Schuld der Schuldigen verschleiern. Sie soll uns vielmehr einen Weg in die Freiheit ebnen. Selbst wenn eine Person, die andere missbraucht hat, nie einsieht, was sie da getan hat, und kein Gericht ihr etwas nachweisen kann, hat Gott für die von Gewalt Betroffenen einen Weg in die Freiheit. Davon bin ich überzeugt.
Deshalb achte ich darauf, dass wir nicht selbst in den Strudel der Gewalt hineingeraten. Da kann uns unter anderem folgendes Bibelwort helfen: Und noch etwas, Geschwister: Richtet eure Gedanken ganz auf die Dinge, die wahr und achtenswert, gerecht, rein und unanstößig sind und allgemeine Zustimmung verdienen; beschäftigt euch mit dem, was vorbildlich ist und zu Recht gelobt wird. (Phil. 4,8)
Es mag sein, dass diese Ausarbeitung für Betroffene noch keine befriedigende Antwort ist. Fromme Gewalt gab es schon zu Jesu Zeiten und sie hat leider nie aufgehört. Was wir meines Erachtens tun können, ist zunächst einmal, uns selber davor zu hüten sowie Betroffenen zu helfen und uns schützend vor Menschen zu stellen, die in irgendeiner Weise geknechtet werden.
Pastor Hans-Peter Mumssen